„Albtraum Jogginghose“ oder „Der soziale Abstieg“

Dank meines Berufs habe ich täglich Kontakt mit einer Menge Menschen. Ich kommuniziere mit ihnen, muss sie anfassen, tue ihnen etwas Gutes. Nein, ich bin keine Prostituierte, ich bin Physiotherapeutin. Viele Merkmale meines Berufs treiben mich fast täglich in den Wahnsinn, andere wiederum haben ihre Vorteile.

Z. B. haben Physios mit Abstand die bequemste Berufskleidung: T-Shirt, Turnschuhe und bequeme Hose. Es ist letzteres Kleidungsstück, welches den Umterschied macht, in Sachen Bequemlichkeit. Wo sonst kann man schon mit Schlabberhose seiner Arbeit nachgehen? Sie brachte uns Physios den Titel „Halbgötter in Jogginghose“ ein, welcher ganz klar eine Untertreibung ist. Karl Lagerfeld behauptet, wer Jogginghose trägt habe die Kontrolle über sein Leben verloren. Ich sage, den Trägern dieser Hose steht die Welt offen. Eine Welt voller Komfort und Bein- und Bewegungsfreiheit.

Als ich, vor 11 Jahren und damals noch in der Ausbildung, mit der Ausübung dieses Berufs begann, entschied ich mich frühs für eine straßentaugliche Hose und ein schönes Oberteil. 30 Minuten später kam ich zur Arbeit und warf mich dort in meine Arbeitskleidung, nur um mich dann, neun Stunden später, nach Feierabend wieder umzuziehen. Zuhause angekommen wurde mir die „normale“ Kleidung bald zu lästig und ich striff mir wieder Jogginghose und ein lockeres Oberteil über.

Bald erkannte ich die Nutzlosigkeit „normaler“ Kleidung. Wozu das viele Umziehen? Ich bin getrieben vom Streben nach Effizienz und nutzlose Tätigkeiten kosten Zeit und Energie. Weg also mit der Vielkleiderei! Ich schlüpfte also schon morgens in die Jogginghose und Arbeits-T-Shirt und war bereit. Mein Kleiderschrank ist in mehrere Stapel unterteilt. Arbeitsshirts haben einen eigenen. Es sind T-Shirts, die zwar passen und auch passabel aussehen, die ich aber trotzdem außerhalb der Praxis nicht tragen würde. Wie ich entscheide , ob ein Shirt zum Arbeitsstapel oder zum Alltagsklamotten-Stapel sortiert wird, kann ich nicht genau erklären. Es geschieht intuitiv. Meine Arbeitskleidung bildet also einen intuitiven Stapel.

Die Ökonomie, mit der ich nun meinen Tag bestritt, war unfassbar, sparte ich mir doch so wichtige zwei Minuten vor Dienstbeginn und wichtige zwei Minuten nach Dienstende. Das sind ganze vier Minuten oder, laut der Zaunfink’schen Zeitrechnung, vier Kaffees. Es kam mir vor wie ein Traum und ich schwebte im siebten Effizienz-Himmel. Ich ahnte nicht, welche Gefahren diese kleine Veränderung meines Tagesablaufs mit sich ziehen würde.

Bereits wenige Tage später zeichneten sich die ersten Folgen ab. Als ich eines Tages nach Feierabend nach Hause kam, fand ich mich ja bereits in bequemen Klamotten vor, kein Grund zum Umziehen also. An diesem Tag fehlte ein alltägliches Lebensmittel in meiner Küche. Ich weiß leider nicht mehr, was es war. Vielleicht war es Milch oder Eier. Kaffee war es bestimmt nicht, denn von dem habe ich stets so viel zu Hause, dass ich, für den Fall einer eintretenden Apokalypse, noch weitere sieben Jahre mit Kaffee versorgt wäre. Sagen wir einfach, es wäre Milch gewesen. Also, mir fehlte Milch.

Nun gibt es verschiedenste Wege an Dinge zu kommen, die man benötigt. Für Lebensmittel wähle ich so gut wie immer die konventionelle Art des Supermarktes. Ich wurde so erzogen, dass man sich, bevor man das Haus verlässt, anständig anzieht und zumindest einen kurzem Blick in den Spiegel wirft, ob man sich so der Menschheit präsentieren kann oder ob weitreichende Folgen, vielleicht sogar der Ausbruch des nächsten Weltkriegs, durch fettige Haarsträhnen im Gesicht oder einen Fleck auf dem Oberteil provoziert werden können. Manche nennen das eitel, ich nenne das Respekt vor mir selber und meinen Mitmenschen. An diesem Tag führte mich der Weg zur Haustür also, wie immer, am Spiegel vorbei. Ungewaschene Haare waren nicht das Problem, vielmehr trug ich noch dieselben Klamotten wie in der Arbeit. Ich begann abzuwägen. Schlussendlich siegte die Faulheit, es war doch schließlich nur ein kurzer Weg bis zum Supermarkt und ich würde ja dort auch nicht lange bleiben. Nur ein Päkchen Milch, das wäre alles. Und wenn mich meine Patienten so ertragen mussten, könnte es die Kassiererin bestimmt auch!

So fing es an, schleichend, ein Prozess der Verwahrlosung, des sozialen Abstiegs. Es blieb nicht beim kurzen Supermarktbesuch. Die Hemmschwelle, in Jogginghose das Haus zu verlassen, wurde immer niedriger. Bald fand ich mich an Bäckereitheken, in Banken, beim Frisör und sogar im Reisebüro in derartiger Kleidung wieder und immer war meine Rechtfertigung diesselbe: „Ist ja nur eben mal kurz…“

Es benötigte die Mithilfe meiner Freunde und Familie, mich wieder auf den rechten Weg zu bringen. Zuerst musste das Problem angesprochen und bewusst gemacht werden („Sag mal, findest Du nicht, dass Du in letzter Zeit etwas… verwahrlost?“), der Rest war schnell gemacht. Peinlich berührt führte ich sogleich die alte Regel wieder ein. Morgens anständig kleiden und dann Umziehen für den Rest des Tages. Diese Regel habe ich bis heute beibehalten und alle Beteiligten sind damit zufrieden. Ich, weil ich wieder „Kontrolle über mein Leben habe“ Vielen Dank hier an Karl Lagerfeld, meine Freunde und Familie, sowie sämtliche Mitmenschen, weil sie nun endlich nicht mehr diesen Anblick ertragen müssen und die Stadtwerke, da durch meine ständige Umzieherei seither mehr Wäsche anfällt und somit meine Wasserkosten in die Höhe schießen. Nur für die Patienten, für die ändert sich gar nichts. Von denen kommt lediglich der Spruch „Ich möchte auch mal den ganzen Tag in Jogginghose herumlaufen…“. Glaubt mir, ihr wollt es nicht!

Es grüßt euch der

Zaunfink Signatur detailliert2