Meine anderen Ichs

Irgendwann fällt bei jedem Kennenlernen einmal die Frage nach der beruflichen Tätigkeit. Eine Frage, der ich mit Grauen entgegenblicke. Denn die Antwort „Ich bin Physiotherapeutin“ setzt bei meinem Gesprächspartner eine reflexartige Verhaltenskaskade bestehend aus 5 Schritten in Gang, welche ich an dieser Stelle gerne genauer ausführen möchte:

Die 5 Schritte

Schritt 1: Die Augen des Gesprächspartners weiten sich. Beide Augenbrauen werden nach oben gezogen. Als ich Schritt Nummer eins das erste Mal beobachtete, war mir nicht klar, wohin eine solche Reaktion führen würde. Mittlerweile habe ich es oft genug erlebt, auf Schritt 1 folgt immer Schritt 2.

Schritt 2: Für den Bruchteil einer Sekunde huscht ein hoffnungsvolles und erlöstes Lächeln über das Gesicht des Gesprächspartners.

Schritt 3: Der Gesprächspartner wird sich seines Lächelns bewusst und innerhalb eines Augenblickes verändert sich sein lächender und erfreuter Gesichtsausdruck in eine Leidensmine. Stirnfalten breiten sich aus, beide Mundwinkel zeigen auf einmal nach unten und in seinen Augen ist nun ein gequälter, leidvoller Ausdruck erkennbar.

Schritt 4: Nun kommen die Extremitäten ins Spiel. Hier allen voran Hand und Zeigefinger, welche in Zeitlupentempo zu einer, von Gesprächspartner zu Gesprächspartner unterschiedlichen, Körperstelle geführt werden. Die Bedeutung dieser Handlung möchte ich in Schritt 5 erklären.

Schritt 5: Nach Veränderung des Gesichtsausdrucks und Einsetzen des Mediums Hand als Zeigeapparat unterstützt nun erstmals die Stimme des Gesprächspartner dessen Handlungen. Mit einer Mischung aus Leid und Verwunderung in der Stimme wird mir, dem Physiotherapeuten, nun in epischer Breite erklärt, seit wann, wie, warum und unter welchen Umständen das Körperteil schmerzt, auf welches gerade mit dem Finger gezeigt wird.

Das weitere Verhalten der Gesprächsparner ist dann, von Person zu Person, verschieden. Was jedoch immer gleich ist, ist meine Reaktion darauf. Ich kann sie, die 5 Schritte, nicht ausstehen.

Es scheint, als ob jeder Mensch, dem ich erzähle, wie ich mein Geld verdiene, ganz egal ob jung oder alt, sportlich oder Couchpotato, urplötzlich körperliche Gebrechen unterschiedlichster Natur entwickelt, sobald der Satz „Ich bin Physiotherapeutin“ fällt. Was treibt diese Leute an? Die Hoffnung auf Kuration der Beschwerden allein durch das Mitteilen selbiger an medizinisch geschultes Personal? Oder vielleicht der Wunsch, dass ich, der Physiotherapeut, in diesem Moment alles stehen und liegen lasse und mich dem Leid des nun nicht mehr Gesprächspartners sondern Patienten widme? So richtig, mit ausführlicher Anamnese, gründlicher Inspektion, sorgfältiger Funktionsüberprüfung und -testung und dann natürlich auch Behandlung. Und was wäre eine physiotherapeutische Behandlung ohne anschließende Aufklärung über Entstehung und sowohl positiver als auch negativer Beeinflussbarkeit dieses Problems mit Aufzeigen von sog. „Hausaufgaben“?

Aber nein, auf dieses Spielchen lasse ich mich nicht ein. Um dieser Situation von Anfang an zu entgehen lassen ich  mir einfach eine neue Identität einfallen. Diese Identitäten variieren von „klingt plausibel“ bis hin zu „noch nie gehört“ und „schwer zu glauben“. Ganz egal, was ich mir einfallen lassen, ich muss es mit absolut ernster Mine und voller Überzeugung darbieten. Und ich muss gewappnet sein für eventuelle Fragen, die meine erfundene Identität mit sich bringt.

So habe ich über die Jahre schon verschiedene Berufe gehabt. Wenn es etwas realistischer sein sollte dann war ich von Beruf Personalerin bei der Stadt München, ohne zu wissen was ein Personaler eigentlich tut. Ich habe schnell herausgefunden, dass ich nicht die einzige bin die von diesem Beruf keine Ahnung hat und man so seinem Gegenüber im Prinzip alles erzählen kann wenn es zu der Frage kommt, was denn ein Personaler eigentlich macht. 

Eine beliebte Tätigkeit, über die man garantiert immer ausgefragt wird, ist der Marienkäfer-Züchter. Hier empfiehlt es sich den wissenschaftlichen Namen des Marienkäfers zu kennen (Coccinellidae, dank Wikipedia schnell und einfach herauszufinden). Was man sonst noch benötigt ist das Talent Geschichten zu erzählen. Man hat ja schon mal davon gehört, dass der asiatische Marienkäfer, der böse, hierzulande immer häufiger anzutreffen ist und unserer heimischen Rasse Territorium und Nahrung streitig macht. Man hat so das Gefühl, dass es immer eine asiatische Rasse ist, die der einheimischen das Leben schwer macht. Außer bei den Eichhörnchen, da macht die amerikanische Unterart den hiesigen das Eichhörnchen – Dasein schwer.

Es ist also vollkommen verständlich, wenn man die einheimischen Marienkäfer schützen möchte und deswegen Zuchtprogramme ins Leben ruft. Immerhin sind die gepunkteten Insekten Nützlinge.

Meine neueste Identität ist der Beruf des Tontaubentöpfers. Das klingt nicht nur interessant, es ist auch eine anspruchsvolle Tätigkeit. Immerhin muss jede Tontaube exakt gleich sein, die gleiche Größe, das gleiche Gewicht, die gleichen aerodynamischen Merkmale aufweisen. Weit gefehlt wer bisher dachte, dass eine solche Präzision durch maschinelle Produktion erreicht werden könne. Jede Tontaube wird mit Liebe und Hingabe von Hand getöpfert.

Nicht auszudenken wäre, wenn diese Berufsgruppe keine Nachfolger finden würde. Wettkämpfe, ja sogar Weltmeisterschaften würden aufgrund Tontaubenmangels abgesagt werden. Man würde wieder zum Entenschießen zurückgehen, das ökologische Gleichgewicht somit noch mehr ins Wanken bringen. Auch der Beruf des Marienkäfer-Züchters wäre in Gefahr, nimmt man dem Marienkäfer mit dem Schießen auf Vögel doch die natürlichen Fressfeinde…

Wie man sieht hat dieser Beruf wahrhaftig das Potential zu einer besseren Welt beizutragen. Ähnlich also wie der Physiotherapeut. Da ist die Lüge doch gar nicht so weit hergeholt, oder?

Hier im Blog bleibe ich jedenfall der

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7 Kommentare

  1. Mir lag gelegentlich auf der Zunge, kurzerhand zu behaupten, dass ich Sozialarbeiter sei.

    Schade, es hätte mich so gefreut, den entgeisterten Gesichtern von all den menschlichen Härtefällen und der fortschreitenden berufsbedingten Depression zu erzählen – wer sollte es mir angesichts so viel menschlichen Elends verübeln?!^^

    Schlecht sind Berufe wie Arzt, Anwalt, ITler, Handwerker … da kommt garantiert irgendein Anliegen, das man doch bitte mal eben kostenlos lösen soll.

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  2. Hehehe… Klasse Text. Das mit den ausgedachten Berufen gefällt mir super. Vor allem, weil ich immer die vage Idee hatte, bei einem Ehemaligen-Klassentreffen (so ich denn jemals zu einem gegangen wäre!) einfach jedem Ex-Mitschüler was anderes zu erzählen, wenn’s um meinen Job geht. Und um dann genau in dem Moment grinsend die Party zu verlassen, wenn die ersten merken, dass da was nicht stimmen kann.

    Ähnlich stereotype Reaktionen kenn‘ ich übrigens auch noch aus Zeiten, in denen ich mal in einer Band gesungen habe. Wenn ich das erzählt habe, kam immer: „Echt? Sing‘ doch mal was!“ Da habe ich dann gern zurückgefragt: „Und wenn ich jetzt Chirurgin wäre, hättest Du dann gesagt: Operier‘ doch mal was!?“ (Bin mir aber nicht mehr ganz sicher, ob diese Idee nicht aus einem alten Max-Goldt-Text stammt. Fremde Lorbeeren und so… 😉 )

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  3. We should really start to develop new occupations in which we are co-partners, like magician (you, of course) and the man who gets sawn in the middle (me), especially for those cases in which we run into my own regular customers who always need some new documents or at least some information about visa and whatnot.

    PS: This has got to be one of my favourite Green is the Colour blog posts, although I’m having a hard time ordering them. Let me just put it on my Top 3, how about that? 😉

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